Über N. Pawo Elias

Die tibetisch-buddhistische Tradition kennt einen berühmten Lama (Nyima Tashi [nyi ma bkra shis], den 1. Traleg Kyabgön Rinpoche [sgra legs skyabs mgon rin po che]), den man den „Sich an Geburten Erinnernden“ nennt. Dieser Beiname stammt daher, dass Rinpoche, der den größten Teil seines Lebens in Schweigeklausur verbracht hat, sowohl seine Vor- als auch seine Folgeexistenzen visionär erblickt hat. Dabei hat er u.a. herausgefunden, die Wiedergeburt von Ananda, dem Lieblingsschüler Buddha Shakyamunis, zu sein.

Insofern fängt diese sich über viele Existenzen erstreckende Biografie gleichermaßen gut wie heilsam an und geht auch entsprechend wunderbar weiter. Bei mir dagegen verhält sich das anders. Im Kernland Westfalens, an dessen Rand ich aufgewachsen bin, hätte man jemanden wie mich früher vermutlich als Spökenkieker bezeichnet. Im Gegensatz zu dem oben erwähnten weisen Lama haben diese „Spukseher“, wie der Begriff bereits andeutet, mittels ihres „zweiten Gesichts“ – einer Art visionären Sehens von Bildern vor dem inneren Auge – meist sehr unangenehme Dinge wie Kriege, Seuchen, Todesfälle und dergleichen vorhergesagt.

Nun bin ich zwar kein Spökenkieker (und wer wollte das als wissenschaftlich ausgebildeter Mensch in modernen, aufgeklärten Zeiten schon sein?), doch gibt es meines Wissens in meiner Heimatkultur kein Wort für Leute, die von anderen Zeiten und Daseinssphären träumen und dabei auf Namen stoßen, die sich sogar mittels einfacher Internetsuche als die von historischen Personen identifizieren lassen, also von Menschen, über deren Existenz geschichtliche Quellen berichten. Und so einer bin ich, wobei ich dieses ungewöhnliche Talent vermutlich von einem sehr, sehr fernen kalmückischen (also westmongolischen) und damit in einer schamanistischen Tradition stehenden Vorfahren geerbt habe.

Herausgefunden habe ich dies allerdings erst, nachdem ich mich 2015 mit bereits 46 Jahren dazu entschieden hatte, beim 17. Karmapa, Orgyen Thrinle Dorje [o rgyan ‚phrin las rdo rje] Zuflucht zu nehmen, wodurch ich offiziell ein Buddhist geworden bin. Kurz darauf kam mir nämlich die Idee, meine vielen Träume einmal niederzuschreiben, weil es sonst zu schwierig war, anderen das durch sie Erlebte mitzuteilen. Aus der intendierten kurzen Notiz ist ein mehrbändiger Roman mit dem Titel „Maitreyas Träume“ geworden. Die jahrelange Arbeit daran wiederum hat mich sozusagen zu einem Spezialisten im Träumen gemacht – vielleicht ein wenig ähnlich zu dem eingangs erwähnten Nyima Tashi Rinpoche, auf den ich übrigens erst kürzlich durch eine Vision aufmerksam geworden bin, die ich im Anschluss an den Tod eines anderen Lamas (des 9. Khenchen Thrangu Rinpoche [mkhan chen khra ‚gu rin po che]) haben durfte.

In meiner Wahrnehmung handelt es sich bei den vielen geträumten Geschichten um Erinnerungen meinerseits an die Erlebnisse meiner Vorexistenzen. Das mag man für vollkommen verrückt halten, doch vermag ich mir anders nicht zu erklären, weshalb sonst ich all diese Dinge geträumt habe – wozu übrigens auch das Gespräch mit Buddha Shakyamuni gehört, das Bestandteil der ersten beiden Bände von „Maitreyas Träume“ ist. Da ich nicht in einem tibetisch, indisch und / oder buddhistisch geprägten Umfeld aufgewachsen bin, habe ich damals gemeint, mein Kopf sei für all diese mir fremd anmutenden Gedanken zu klein. Auf gewisse Weise scheint er das auch tatsächlich gewesen zu sein, sonst hätte ich dieses Gespräch betreffend nicht ungezählte Traumnächte beschert bekommen, in denen mir sozusagen immer wieder Korrekturfahnen übermittelt worden sind.

Unzweifelhaft haben meine vielen Träume aber auch mit einer von mir erst 2023 völlig aufgedeckten nachgeburtlichen traumatischen Erfahrung zu tun, durch die ich von einem Menschen mit männlicher Geschlechtsidentität und uneindeutigen äußeren Geschlechtsmerkmalen in ein vermeintlich rein weibliches Wesen verwandelt worden bin. Dies ist mir klar geworden, als ich nach der Arbeit an meinem Roman die dabei entwickelte Technik, Informationen von meinem Unterbewusstsein zu erhalten, auf mein gegenwärtiges Dasein angewandt habe.

Diesen Schritt zu unternehmen, gab es zwei Gründe: Erstens war mir irgendwann schließlich doch noch aufgefallen, dass es nicht bloß seltsam ist, wenn eine Frau von sich ständig ausschließlich als Mann träumt, sondern es überdies nicht normal ist, dass mir bereits seit Kleinkindzeiten an ungezählten Abenden vor dem Einschlafen ein leidender Mann erschienen ist, der mir immer wieder dieselben Geschichten in ähnlichem Gewand „erzählt“ hat, indem er sie mich als eine Art Halbwachtraum hat erleben lassen. Zweitens habe ich durch meine regelmäßig durchgeführten buddhistischen Übungen eines Tages auf einmal die Erfahrung eines sehr klaren Bewusstseins meiner selbst gemacht. Das an sich wäre erst einmal nichts Ungewöhnliches, ist es u.a. doch erklärtes Ziel buddhistischer Übungen, zu Geistesklarheit zu führen. Überraschend daran war vielmehr, dass dieses Bewusstsein sich für mich männlich angefühlt hat, und ich bei dessen Beobachtung auf einmal gemerkt habe, dass ich es bereits kenne: aus meinen Träumen.

Nach der Erkenntnis, dass „der leidende Mann“ einen Bewusstseinsanteil von mir darstellt, der ins Unterbewusstsein verdrängt dort an einer Bewusstseinsspaltung in drei „Persönlichkeiten“ gelitten hat, ist es ein gutes Stück Arbeit gewesen, durch eine mit meinem Unterbewusstsein unternommene „Traum-Gesprächs-Therapie“ Heilung herbeizuführen. Dazu waren verschiedene Schritte nötig: Die vermeintlich zum Überleben notwendige Rolle der Frau musste aufgegeben werden, und die „drei Männer“ waren wieder zu vereinen. Überdies hatte der sich nicht mit dem eigenen Körper identifizierende Mann an die seltsame Tatsache herangeführt zu werden, dass er in einem Frauenkörper zu Hause ist und Schmerzen wie Blutungen im Genitalbereich daher nicht das Mindeste mit ihm auferlegter Folter zu tun haben.

Dabei hatte das Leiden dieses sich als Mann wahrnehmenden wie empfindenden Bewusstseinsanteils allerdings nicht nur mit ihm unerklärlichen körperlichen Vorgängen zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass er traumabedingt sehr lange Zeit an einer Amnesie gelitten hat, die ihn hatte glauben lassen, bei den Erinnerungen aus Vorleben handele es sich um Vorkommnisse aus seinem gegenwärtigen Dasein. So unbegründet das an den „leidenden Mann“ delegierte Leiden daher scheinen mag, galt es abschließend, dieses trotzdem anzuerkennen wie anzunehmen. Dies wiederum hat selbstverständlich bedeutet zuzulassen, es auch als das zu fühlen, was es schon immer gewesen ist: mein eigenes Leiden.

Trotz der angeklungenen Dramatik braucht man jetzt nicht zum Taschentuch zu greifen. Schließlich hat es seinen Sinn, weshalb ich mich zunächst an meinen Vorleben abarbeiten durfte. Immerhin hat mir das dabei Gelernte das Handwerkszeug an die Hand gegeben, die Hürden meines gegenwärtigen Daseins zu überwinden.

Nun mag man sich wundern, weshalb ich, wenn ich meine, dass es sich bei meinen Träumen über die Leben von Männern aus unterschiedlichsten Epochen und Kulturen um Erinnerungen handelt, diese trotzdem stets als „vermeintlich“ kennzeichne. Ein Grund dafür besteht darin, dass die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns die Funktionen von Kreativität und Erinnerung eng miteinander verknüpft, weshalb unser Gedächtnis sehr anfällig für unbemerkte Manipulationen ist. Dies gesagt habe ich die Erfahrung gemacht, dass nicht ganz richtige Erinnerungen – insbesondere solche, bei denen echte Erinnerung aus Selbstzensur unbewusst von einem selbst kreativ „bearbeitet“ wurde – eine im Bauchhirn angesiedelte emotionale Reaktion hervorrufen, bei der sozusagen eine innere rote Fahne hochgehoben wird, die sich erst senkt, hat man sich dieser Erinnerung noch einmal zugewandt und ihr damit die Möglichkeit zur Korrektur gegeben.

Vor allem aber ist es mir wichtig zu betonen, dass es einerseits im Vajrayana-Buddhismus üblich ist, ganz bewusst mit Illusionen zu üben, um zu Wahrheiten zu gelangen, während es andererseits zu den Grundlagen buddhistischer Erkenntnis gehört, dass es ein klar definierbares Sein überhaupt nicht gibt, da die gesamte Welt sich ständig in einem Prozess der Veränderung befindet. Auch deshalb zählt das „Anhaftung“ genannte geistige Festhalten an etwas – und sei es die eigene Selbstdefinition – zu den drei sogenannten Geistesgiften. Von Giften aber sollte man sich, will man gesund sein bzw. werden, besser fernhalten.

Insofern betrachte ich meine Träume als ein sehr hilfreiches, dabei jedoch lediglich möglicherweise und nicht notwendigerweise historische Wahrheiten zeigendes Phänomen. Dies gesagt bin ich gleichzeitig für Ideen wie die einiger Physiker über Parallelwelten offen. Trotzdem spielen für die von meinen Träumen transportierte innere, geistige Wahrheit Beweisbarkeit oder stattdessen wenigstens eine nachvollziehbar begründete hohe Wahrscheinlichkeit der geschilderten Ereignisse letzten Endes lediglich eine untergeordnete Rolle, da nicht die äußere Handlung, Daten, Orte oder Namen im Vordergrund stehen, sondern die hinter den sich darum rankenden Geschichten stehende Wahrheit.

Im Gegensatz zum eingangs erwähnten Lama, der seine Vorexistenzen auf Ananda, einen Mönch sowie Lieblingsschüler und Begleiter Buddha Shakyamunis zurückverfolgt hat, startet meine „karmische Ahnenreihe“ mit König Ajatashatru von Magadha, einem an argen Verblendungen leidenden Laienschüler des historischen Buddhas – und setzt sich entsprechend fort. Doch möchte ich an dieser Stelle nicht allzu viel verraten, um „Maitreyas Träume“ nicht zu spoilern. Nur so viel sei erwähnt, dass sich die in meinem Dasein erkennbare ungewöhnliche Mischung aus außerordentlich hilfreichem und große Schwierigkeiten schaffendem Karma aus einer sehr spezifischen Absicht erklärt, die von der letzten Wiedergeburt Ajatashatrus – einem tibetischen Mönch namens Sherab Khyentse [shes rab mkhyen brtse] – zusammen mit zwei anderen Personen gefasst worden ist.

Abschließend noch eine kurze Anmerkung zum Titel meines Romans: Der lautet nicht „Maitreyas Träume“, weil ich denke, ich sei oder würde notwendigerweise einmal der „Maitreya“ genannte sog. „Buddha der Zukunft“ werden. Zwar beginnt das Werk mit einer Version der Zukunft, doch heißt dies nicht, dass dies die Zukunft sei. Vielmehr handelt es sich in meinem Verständnis um eine der vielen potenziellen Versionen von Zukunft. Ob sich das von mir über jene Geträumte jemals außerhalb der Traumebene manifestieren wird, vermag ich nicht zu sagen – genauso wenig wie, ob es sich bei den Träumen um eine Gabe von mir an den zukünftigen Traumyogi handelt, wie ich das wahrnehme und mir wünschen würde, oder ob nicht möglicherweise er mir irgendwie seine Träume zum Geschenk gemacht hat. Immerhin gibt es auf geistiger Ebene eine Sphäre der Zeitlosigkeit, auf der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht voneinander getrennt sind, weil sie ohne Zeit dort logischerweise nicht existieren.

Für die Freude am Lesen, am Eintauchen in andere Welten wie einen möglichen Erkenntnisgewinn spielt all das jedoch keine Rolle. Daher wünsche ich euch, liebe Leser, dass ihr aus meinen Werken etwas für euch mitnehmt, das euch dieselbe Freude bereitet, wie ich sie für mich gefunden habe.

Herzlichst, euer

N. Pawo Elias

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